2012/11/23

Roger Waters baut die Mauer wieder auf

VON PHILIPP HOLSTEIN -  19.11.2012



London (RP). Eine Begegnung mit dem Pink-Floyd-Gründer in London: Der 69-Jährige geht 2013 mit "The Wall" neuerlich auf Europa-Tournee. Die Show soll noch gigantischer werden als zuvor. Waters will sein Publikum überwältigen.


Roger Waters hat einen passenden Ort für die Präsentation seiner neuen Tournee ausgesucht. Das Mayfair Hotel liegt nur wenige Gehminuten von der Carnaby Street entfernt, jenem mythischen Platz, an dem in den 60er Jahren alles seinen Anfang nahm. Dort begann London zu swingen, da trafen sich die Beatles und die Stones, Pink Floyd und Mary Quant. Ein halbes Jahrhundert ist das her, und seitdem hat sich viel verändert. Soho und Mayfair sind nun noble Stadtteile, Rolls-Royce und Stella McCartney haben ihre Läden dort, Burberry und die Rolling Stones. Ja, tatsächlich: Die Band betreibt einen eigenen Shop in der Carnaby Street, es gibt T-Shirts mit Zungenlogo und die neue Best-Of-CD, und alles ist ein bisschen teurer als anderswo. Darüber denkt man also nach, als Roger Waters den Raum betritt. Die erste Frage an ihn lautet entsprechend so: Warum nehmen sie auf den teuersten Plätzen bis zu 240 Euro für eine Konzertkarte? Darauf Waters: "Meine Auftritte sind Luxusartikel. Wie meine Rolex." Er zeigt auf seine Armbanduhr.

Man weiß bei diesem Kerl nie so genau, ob er nun sehr lässig ist oder doch eher störrisch. Fest steht: Roger Waters ist ein Gigant. Gemeinsam mit Paul McCartney und Mick Jagger gehört der Bassist, Gelegenheitssänger, Texter und Komponist der 1965 gegründeten englischen Band Pink Floyd zu den größten lebenden Rockstars der Welt. Die Titel von nur drei Alben genügen, um seinen Rang zu dokumentieren: "The Dark Side Of The Moon" (1973), "Wish You Were Here" (1975), "The Wall" (1979).

Mit letzterem will er 2013 abermals auf Tour gehen, und wer sich darüber wundert, weil der 69-Jährige das Konzeptalbum doch gerade erst ausführlich auf der ganzen Welt aufgeführt hat, sei an die Statistik verwiesen: Waters nahm mit den "The Wall"-Konzerten in den vergangenen Jahren rund 380 Millionen Dollar allein durch Ticketverkäufe ein. Selbst für einen Mega-Multimillionär Grund genug für eine Verlängerung, und die wird größer ausfallen, gigantischer – noch und nöcher.

"The Wall" gehört bei allem Respekt dann doch zu den weniger starken Werken Pink Floyds. Sicher, da sind "Comfortably Numb", "Run Like Hell" und natürlich "Another Brick in The Wall Pt. II". Aber das Album als Ganzes? Harte Kost, düstere Stimmung. Eine Teenager-Symphonie aus der Hölle; den Erwachsenen vor die Füße gerotzt. Als Soundtrack zum Schmusen ungeeignet. Den Menschen geht es damit jedoch wie mit den wuchtigen Denkmälern, die an die alte Zeit erinnern: Das Küssen und Streicheln haben die Bronze allmählich in glänzendes Gold verwandelt. Rogers jedenfalls spielt nur mehr in Stadien, zumeist Open Air, Bombast total, eine Surround-Sound-Orgie, auch die visuelle Komponente der Show wird verstärkt. Waters: "Als ich jung war, hatte ich etwas dagegen, in Arenen zu spielen, weil ich meinte, zu 50 000 Menschen könne man keine Beziehung aufbauen." Und heute? "Habe ich meine Meinung geändert."

Waters trägt den Ausgeh-Anzug des Rock-'n'-Roll-Hochadels: Jeans, schwarzes T-Shirt, Sakko. An beiden Ringfingern funkelt es. Das graue Haar hat er sich hinter die Ohren gestrichen. Manchmal zuckt es in seinem Gesicht. Er wirkt wie ein Schauspieler der Royal Shakespeare Company, der sich für die Titelrolle in "Macbeth" warm macht. Wenn sich Waters über eine Frage freut, beugt er den Oberkörper nach vorne und zeigt mit dem Finger auf den Sprechenden. Wenn er nachdenkt, kneift er das rechte Auge zu. Und wenn er eine große Antwort vorbereitet, zupft er an seinem weißen Kinnbart. Was ist so toll daran, im Stadion zu spielen, Herr Waters? "Der Triumph."

Waters tritt alleine in seine eigenen Fußstapfen. Von Pink Floyd steht nichts mehr auf den Tourplakaten, da ist nur mehr der Name Roger Waters. "The Wall" markierte einst das Ende der Gruppe in ihrer einträglichsten Besetzung, auf die Veröffentlichung folgten jahrelange Rechtsstreitigkeiten und schließlich die Trennung von David Gilmour, Nick Mason und dem 2008 gestorbenen Richard Wright. "Heute gehe ich auf die Bühne und genieße The Wall", sagt Waters. In den 70ern sei das nicht möglich gewesen, man zickte sich im dichten Trockeneis-Nebel ständig an, vor allem zwischen Waters und seinem geliebten Feind David Gilmour ging es hoch her. Manchmal sollen sogar Fäuste geflogen sein. Waters spricht gentlemanlike von "Spannungen".

Zur Auflockerung eine Frage, die eingefleischte Floydianer erfreuen dürfte: Herr Waters, warum spielen sie bei den Wall-Konzerten nie den Song "When The Tigers Broke Free"? Oberkörper, Finger. Waters lächelt. Für Laien: Das Lied wurde von Waters' Bandkollegen einst für das Album "The Wall" abgelehnt – man kann sich ungefähr vorstellen, wie er darauf reagiert haben mag. Es kam dann aber in der "Wall"-Verfilmung durch Alan Parker aus dem Jahr 1982 vor; Bob Geldof spielte darin die Hauptrolle. Das Stück handelt von Waters' Vater, der im Zweiten Weltkrieg fiel. Sehr persönlich, sehr intim – und eben deshalb problematisch. "Das Lied ist zu sehr Roger Waters. Ich möchte die Show allgemeiner halten. Die Mauer als Metapher. Darum geht es, das macht das Konzept so erfolgreich."

Faszinierendes Thema: die anhaltende Popularität von Pink Floyd. Sie sind unübertroffen. Man höre sich nur noch einmal "Shine On You Crazy Diamond" an: so groß! Oder die Ballade "If" vom Album "Atom Heart Mother": unsterblich! In den USA werden jedes Jahr knapp 400 000 Exemplare von "Dark Side Of The Moon" verkauft – obwohl das Album 40 Jahre alt ist. Was sagt dieser Erfolg über die aktuelle Musikproduktion? Zupfen am Bart. "Fragen sie das jemanden, der sich mit aktueller Musik auskennt", sagt Waters. Und: "Ich habe mich nie für Popmusik interessiert." Und "The Wall"? Was finden die Menschen daran? Waters kneift das rechte Auge zu. "Die Menschen verstehen, dass wahr ist, was sie da hören. Sie wissen, dass ich das alles gefühlt habe. Daran ist nichts künstlich."

Waters veröffentlichte seit 1992 kein Solomaterial mehr – wenn man von der Oper "Ça Ira" absieht. Aber er schrieb weiter Songs, und nun pflegt er eines seiner neuen Lieder in das Programm ein. Das Stück wird auf "Another Brick In The Wall Pt. II" folgen, und es geht darin um den Brasilianer Jean Charles de Menezes, der 2005 von Scotland-Yard-Beamten in einer Londoner U-Bahn-Station erschossen wurde, weil sie ihn mit einem Terrorverdächtigen verwechselten.

Waters, der Sozialkritiker. Er hat sein intellektuelles Panzerarmband nie abgelegt, der Mann mit dem Geldspeicher ist beinharter Sozialist. Schon bei Pink Floyd war das so: David Gilmour kümmerte sich um die Schönheit, um die flirrenden, leisen, traurigen Momente. Er war das Herz der Band. Roger Waters besorgte den Rest, den Wahnsinn, die Ausraster, die Schizo-Stimmen, Psycho-Sounds und Störgeräusche. Er war der Kopf der Band. Anders gesagt: Wenn Gilmour im Hotelzimmer ein schief hängendes Bild sah, rückte er es gerade. Waters warf es aus dem Fenster.

Apropos Gilmour. Der trat im Mai 2011 überraschend in London für das Gitarrensolo von "Comfortably Numb" zu Waters auf die Bühne. Wird es das wieder geben? Waters baut ein neues Element in seine Choreographie ein: Er klappt den Unterkiefer so weit herunter, wie es geht. Dann kratzt er sich im Mundwinkel. Die Kobra kurz vor dem Biss. Gleich wird es giftig. "Ich habe lange nicht mehr mit David Gilmour gesprochen", sagt er. Kein Frühling im Kalten Krieg der Progrock-Großmächte? Will er nicht auch diese Mauer endlich einreißen? Waters: "Es liegt nicht an mir. Gilmour ist einfach zu müde, um mit mir zu telefonieren."

Jemand gibt Zeichen: Die Zeit ist um. Waters redet noch kurz über die Jugend von heute. Sie sitze ständig am Computer, das mache ihm Angst. Neil Postmans Analyse aus den 80er Jahren sei weiterhin gültig: "Wir amüsieren uns zu Tode". Dann schlägt er die Handflächen auf die Oberschenkel: "That's it."

Beim Abschied sagt der Tourmanager, dass wegen der starken Nachfrage fünf weitere Auftritte in Europa bestätigt wurden. Es sind nun zwei Dutzend Termine. The Wall forever. Zurück geht es wieder über die Carnaby Street. Eine Boutique wirbt dort mit einem Zitat von Coco Chanel: "Mode ist vergänglich, Stil bleibt."

From nachrichten.rp-online.de

No comments:

Post a Comment